Dieser Artikel von Alexandra Laubner ist am 2.11.2017 in der Wiener Zeitung erschienen.
Niemand denkt zwingend gerne über den Tod nach. Und meist erst dann, wenn es unvermeidlich ist. Bei Sonja Russ war das „Wenn“ eine schwere Erkrankung. „Ich habe überlebt. Aber mir war klar, dass ich mich mit dem Thema auseinandersetzen und auch etwas zurückgeben muss“, sagt sie. Heute ist Sonja Russ Trauerbegleiterin und hilft Menschen in ihrer Trauerpraxis, Verluste hinter sich zu lassen. Im Interview erklärt Sonja Russ, wann Trauer krankhaft ist und warum Trauernden mit Floskeln wie „Es war Gottes Wille“ nicht geholfen ist.
„Wiener Zeitung“: Ist Trauern aus der Mode gekommen?
Sonja Russ: Nein, denn Trauer kann man nicht steuern. Trauer passiert und es ist nicht etwas, was man sich aussucht. Jeder, der schon einmal einen Verlust erlitten hat weiß, dass Trauer nicht spurlos an einem vorüber geht.
Rund um Allerseelen kommt bei vielen Menschen Trauergefühle hoch. Wie kann man Trauer gesund bewältigen?
Es ist wichtig, dass man die Gefühle zulässt. Trauer ist nicht nur Traurigkeit, sondern eine Mischung aus verschiedenen Emotionen. Häufig mischen sich in die Niedergeschlagenheit auch Wut, Angst und Enttäuschung. Gefühle, die wir uns nur ungern zugestehen. Trauernde sollten die Emotionen auch nicht bewerten, sondern sie als natürliche Bestandteile des Trauerprozesses ansehen. Weiteres sollte man sich mit der Beziehung zu dem Verstorbenen auseinanderzusetzen. Sind Probleme unbearbeitet und Belastendes unausgesprochen geblieben, kann der Trauerprozess blockiert werden. Deshalb sollte man darüber nachdenken, was die Person einem bedeutet hat und welche Dinge man ihm noch gerne auf den Weg mitgegeben hätte.
Wie lange dauert es, einen Verlust zu verarbeiten?
Das ist sehr unterschiedlich. Jeder braucht seine eigene Zeit, um zu trauern. Man sollte auch nicht irritiert sein, wenn andere Menschen anders auf den Verlust reagieren und man selbst zur Bearbeitung der Trauer mehr Zeit benötigt oder starke Emotionen zeigt. Es hängt auch damit zusammen, in welcher Lebenssituation man sich gerade befindet.
Wann kann Trauern krankhaft werden?
Wenn beispielsweise der Verstorbene zwei Jahre nach einem Todesfall noch immer idealisiert wird und für die verstorbene Person beim Sonntagsessen aufgedeckt wird. Das heißt aber nicht, dass es krankhaft ist, zu trauern. Trauer ist keine Krankheit.
Trauern eigentlich Männer anders als Frauen?
Bei Männern kommt es häufiger zu einer so genannten versteckten Trauer. Viele versuchen, die Tränen zu unterdrücken, weil sie Weinen als ein Zeichen der Schwäche ansehen, obwohl es eine innere Reinigung und keine Schande ist. Männer sprechen auch im Vergleich zu Frauen weniger über ihren Verlust. Sie versuchen, die Trauer zu kompensieren, indem sie mehr arbeiten oder Sport betreiben. Viele greifen zu Alkohol und sind suchtgefährdet oder reagieren aggressiv. Es gibt Studien, die besagen, dass Männer nach dem Tod ihrer Partnerin spätestens ein Jahr danach eine neue Partnerin haben. Bei Frauen dauert es sehr viel länger, bis sie eine neue Beziehung eingehen. Da Männer ihre Trauer oft nicht ausleben, geben sie die Trauer an die neue Partnerin weiter, die die Trauer dann oft für sie trägt.
Wie kann man unterstützen?
Das Wichtigste ist, zuzuhören und keine guten Ratschläge zu erteilen. Da sein, ein offenes Ohr haben und Trauernden beispielsweise im Alltag, wie im Haushalt oder bei Amtswegen zur Seite zu stehen. Mit Floskeln wie ,So ist das Leben‘ oder ,Es war Gottes Wille‘ hilft man wirklich niemanden. Im Gegenteil.
Welche Trauerrituale sind wichtig?
Prinzipiell ist es wichtig, Trauerrituale zu entwickeln. Wenn uns die Trauer überkommt, kann es helfen, positive Erinnerungen wachzurufen. Eine Kerze anzuzünden, Fotos anzusehen, Lieblingsmusik zu hören oder ähnliche Rituale, die wir mit dem Menschen verbinden, können dabei unterstützen, durch die Trauer zu sehen. Verluste sind schmerzhaft, aber Erinnerungen bleiben wertvoll und sollten in unserem Herzen Raum erhalten.
In ländlichen Regionen sind Trauerrituale fest verankert, oft nimmt das ganze Dorf an Begräbnissen teil. Schwinden im urbanen Bereich die Rituale?
Nein, meiner Meinung nach nicht. Auch wenn beispielsweise kein Priester beim Begräbnis anwesend ist, dann halten vielleicht Freunde die Trauerrede. Oder man trifft sich am Sterbetage im Lieblingsbeisl des Verstorbenen. Der größte Unterschied ist, dass in der Stadt die Trauerrituale auf den ersten Blick nicht so sichtbar sind wie am Land.
Wann sollte man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen?
Der Besuch einer Trauergruppe kann ein guter Rahmen sein, um Kontakt zu anderen Trauernden aufzubauen und sich Menschen zu öffnen, die Ähnliches erlebt haben. Es gibt auch viele Menschen, die anderen die Trauer nicht aufbürden möchten, weil sie denken, dass sie stark sein müssen. Sich zu verschließen und der Emotion keinen Raum zu geben, ist jedoch problematisch, denn die Zeit heilt nicht alle Wunden. Es ist wichtig, Gespräche mit Freunden und Verwandten oder professionelle Unterstützung zu suchen. Ist es nicht möglich, den Verlust zu besprechen, können künstlerische Betätigung oder Schreiben hilfreich und heilsam sein. Moderierte Trauergruppen sind auch ein niederschwelliger Zugang für jene, die niemanden zum Reden haben. Sollte man das Gefühl haben, im Trauerprozess festzustecken oder nicht mehr herauszukommen, ist es auch ratsam, professionelle Hilfe zu suchen. Trauer beschränkt sich aber nicht nur auf den Tod eines lieben Menschen, sondern tritt auch dann auf, wenn man in Pension geht, wenn man eine Scheidung hinter sich hat oder, wenn man seinen Arbeitsplatz verliert. Das sind alles schwere Trauerzustände.